Via Intolleranza II ? Nono, Voodoo, gecastete Afrikaner und Christoph Schlingensief in einer Kunst- und Lebensbefragung Br?ssel, 15. Mai 2010. “Die Produktion stand unter einem schlechten Stern.” Die Dame im aparten Kost?m, die sich als Theaterbeauftragte des Goethe-Instituts in Br?ssel vorstellt und die Schauspielerin Brigitte Cuvelier ist, schildert ein Proben-Horrorszenario. W?hrend Vulkan Eyjafjallaj?kull ausbrach, sei Christoph Schlingensief zusammengebrochen, ist auf Deutsch mit stark franz?sischem Akzent zu h?ren. Hinter dem Sperrholzrednerpult, das auf die Vorb?hne der Koninklijke Vlaamse Schouwburg gestellt wurde, geht es Schlag auf Schlag weiter.
Die sechs in Burkina Faso gecasteten Performer, darunter ein Taxifahrer, eine Hebamme und die bildh?bsche Kandy, die gerade einen Professor aus Frankreich geheiratet hat, also “Menschen wie du und ich”, h?tten zwei Wochen mit ihren Dritte-Klasse-Tickets festgesessen. Zudem sei Dramaturg Carl Hegemann wegen des Buches seiner Tochter v?llig fertig gewesen, der B?hnenbildner Thomas Goerge in Burkina Faso lebensgef?hrlich an Ruhr erkrankt. Nur acht Tage Probezeit in Berlin. Und der schwer krebskranke Schlingensief lie? vor Stunden per E-Mail mitteilen, dass er nicht mehr k?nne: Am besten, Stefan ?bernehme seine Moderation. Absolute Stille im Zuschauerraum.
Zwei Sekunden Originalmusik
Stefan Kolosko l?sst vorab, als Basis f?r seine Moderation, wie er sagt, einen Film auf dem Nesselvorhang hinter ihm abspielen. Francesco Bertolinis “L’inferno” von 1911 ?ber die H?llenkreise Dantes. Dann stellt Kolosko die Menschen wie du und ich vor. Den “13-j?hrigen Komi” zum Beispiel, der f?r die Hauptrolle des Fl?chtlings besetzt wurde. In Wahrheit ist Komi ein kleinw?chsiger Komiker Ende Zwanzig und schreit zur Kostprobe schon einmal etwas heraus, das irgendwie nach Nono klingt. Professorengattin Kandy hat Luigi Nonos “Intolleranza 1960” gelesen und findet es verlogen: Pauschal-Sichtweisen von Europ?ern f?r die dritte Welt. Nicht relevant. “Schluss mit Nono!” Kandy hat den Text umgeschrieben. In voller Lautst?rke startet ein Rap, Kolosko h?lt dagegen einen MP3-Player ins Mikro und spielt f?r zwei Sekunden Original-Nono ab.
Das ist nicht besonders viel, und es wird auch im Laufe des Abends nicht wesentlich mehr. Trotzdem hat es nicht wenig mit Luigi Nonos “Azione scenica” zu tun. “Intolleranza 1960” wendet sich gegen einen klassischen autonomen Kunstbegriff. Der Einbruch der Wirklichkeit in die Kunst ist heute ein radikalerer, da ist Schlingensief Spezialist. Und Intoleranz 2010 hat eine andere Dimension. Weil Toleranz 2010 sie auch hat.
Exorzismus am Krankenbett
Der Nesselvorhang wird aufgezogen, und zum filmischen “L’inferno”, das weiter abwechselnd mit Schwarz-Wei?-Kolonialfilmen in die Tiefe der B?hne projiziert wird, bricht ein einst?ndiges szenisches Inferno aus. Am Krankenbett wird Exorzismus praktiziert, ein Mitglied aus Schlingensiefs Freak-Family klagt “Vater, Vater, mein schwarzer Vater, warum hast du mich verlassen.” Im Durcheinander von Deutsch, Franz?sisch und afrikanischem More zieht auch die Sinnproduktion des Zuschauers im Kopf immer weitere Kreise. Humorvoll, schockierend, ?berfordernd. Es geht einem an die Nieren und auf die Nerven.
Immer wieder gibt es groteske Szenen der Vereinnahmung. Ein Wei?er macht vor, wie man “Hunger” tanzt. Den “sechs Millionen Schwarzen, die im Zirkus Hagenbeck erfroren sind” wird gedacht. Ein Dorf aus bunt angemalten Papph?tten zieht ?ber B?hne und die Wei?en begutachten es: “Ja, das hast du aber sch?n gemalt.” Im Diavortrag wird Schlingensiefs Operndorf-Projekt in Burkina Faso vorgestellt. Zwischen Dancefloor, Harry-Belafonte-Parodie und Nono-Kleinstmotivverarbeitung sind Arno Waschk und Band im Dauereinsatz.
Afrikanische Heimreise
Und dann ist er doch auf der B?hne: Christoph Schlingensief. Er schleppt sich im schweren schwarzen Mantel, unter dem er einen wei?en Anzug tr?gt, zu einem Stuhl und redet sich atemlos rein: Danke an Stefan, dass er seinen Part ?bernommen hat. Ihm ist nicht ganz wohl. Aber das hat er in Afrika gelernt: “Danke, Jesus, dass du mir dieses Gef?hl gegeben hast, zu lernen von diesen Menschen, dass sie auch danken f?r Schei?e, und das, was du mir angetan hast, war Schei?e. Aber ich sage: Danke! Halleluja!” Die Stimme ?berschl?gt sich. Beim anschlie?enden Tanz f?llt Schlingensief hin und wird von der B?hne getragen.
Am Ende ist er wieder da und res?miert: “Ich habe gemerkt: Alles Quatsch. Ist doch gar nicht wahr. Lasst sie selbst machen. Ich will nach Hause. Wir haben da doch gar nichts zu suchen.” Afrika, “ein humanistisches Steckenpferd, um von unserer eigenen Intoleranz abzulenken”, hei?t es auf der Homepage. Dass es nicht um die Intoleranz gegen?ber anderen geht, sondern um die Intoleranz gegen?ber sich selbst. Das Eigenartige an “Via Intolleranza II” ist vielleicht, dass Schlingensief, der sich so radikal wie kein anderer und so unendlich zu Herzen gehend auf dem Theater einbringt, diesmal einen Weg andeutet, sich herauszuhalten.
von Guido Rademachers, Nachtkritik.de